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Arktisches Eis

Rekordschmelze
alarmiert Forscher

Neueste Schätzungen eines Nasa-Klimaforschers geben dem Eis des Arktischen Ozeans gerade noch eine Hand voll Jahre. Auch wenn sich über die Zahl im Detail streiten lässt, deutet vieles darauf hin, dass die Polkappe viel schneller schmilzt als bisher befürchtet.
Von Christoph Seidler

Der vergangene Sommer war verheerend für das Eis der Arktis, so viel ist sicher. Es gibt zwei weitgehend voneinander unabhängige Probleme: Die Fläche des arktischen Meereises war in diesem Jahr fast ein Viertel kleiner als jemals beobachtet. Nach aktuellen Nasa-Satellitendaten hat das Eis damit gerade einmal die Hälfte der Ausdehnung des Jahres 2004. Außerdem schmolzen Milliarden Tonnen zusätzlich von Grönlands Inlandeis ab.

Völlig unklar ist, ob es sich bei den Messwerten aus diesem Jahr um einen Ausreißer handelt – oder um den Hinweis auf eine bislang unbekannte Tempoverschärfung beim Abschmelzen des arktischen Eises. Eines scheint jedoch klar: Die bisherigen Klimamodelle, die auch vom Uno-Weltklimarat herangezogen wurden, sind wohl zu konservativ: „Die vom IPCC verwendeten Modelle haben eine solch krasse Entwicklung, wie wir sie in den vergangenen Jahren gesehen haben, nicht vorhergesagt”, sagt Ursula Schauer vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.
Ein aktueller Artikel im „International Journal of Climatology” lässt ohnehin an den wichtigsten derzeit verwendeten Klimamodellen zweifeln. Ein Team um David Douglass von der University of Rochester hat 22 der wichtigsten Modelle untersucht – und festgestellt, dass sie das aktuelle Klima nur sehr bedingt erklären können. „Wir schlagen deswegen vor, auf diesen Modellen beruhende Projektionen für zukünftige Klimaentwicklungen mit Vorsicht zu betrachten.”

In jedem Fall haben ganz spezielle Wetterverhältnisse dem arktischen Eis in diesem Sommer kräftig zugesetzt: Der Wind blies nicht wie normalerweise in kreisförmiger Richtung um die Arktis, stattdessen kam er häufig aus der Gegend des Pazifiks in Richtung des Atlantiks. „Dadurch wurde besonders viel Eis in die Grönlandsee befördert, wo es viel schneller als üblich schmolz”, sagt Ursula Schauer. Schuld an der schnellen Schmelze war neben den verheerenden Winden auch, dass viele Eisschollen – wie Schauer es ausdrückt – durch die vergangenen warmen Sommer „angefressen” waren.

Tauwetter in der Arktis

Tauwetter in der Arktis

„Was passiert hier?”

Von den Extremwerten eines Jahres wolle er sich nicht beeindrucken lassen, sagt Nasa-Wissenschaftler Waleed Abdalati: „Aber dieses Jahr ist die Veränderung vor allem im Arktischen Ozean so groß, dass wir innehalten und uns fragen müssen: ‚Was passiert hier?’”

Immer wieder kursieren Zahlen darüber, wann die Arktis komplett eisfrei sein könnte: Mal ist vom Jahr 2030 die Rede, mal vom Jahr 2080. Der US-Klimaforscher Jay Zwally, der bei der Nasa Satellitendaten auswertet, macht nun eine deutlich drastischere Prognose auf. „Bei diesem Schmelztempo könnte der Arktische Ozean am Ende des Sommers 2012 so gut wie eisfrei sein, viel schneller als in früheren Voraussagen.”

Es lässt sich darüber streiten, wie seriös das simple Fortschreiben der Daten dieses Jahres in die Zukunft ist. Doch die Grundaussage klingt überzeugend: Das arktische Eis schmilzt offenbar deutlich schneller als erwartet.

„Die meisten Leute glauben nach wie vor, dass sich das Eis erholen wird”, sagt Christian Haas vom Alfred-Wegener-Institut. Die Lage sei allerdings sehr kompliziert, weil der Eisrückgang jedes Jahr in unterschiedlichen Regionen stattfinde. Deswegen könne man nicht von einem einheitlichen Prozess sprechen.

Das Hauptproblem, so sagt Haas: „Über Eisdicken ist fast nichts bekannt.” Um weitere Daten zu sammeln, will sich deswegen im kommenden Sommer der Franzose Jean-Louis Etienne mit einer Art Zeppelin zum Flug über die Arktis aufmachen – und unterwegs mit einem in Deutschland entwickelten Messgerät die Eisdicke mit nie gekannter Präzision messen.

Niederländischer Forscher fordert Sonderbericht

Der niederländische Forscher Bert Metz fordert deswegen, das arktische Eis zu einem Schwerpunkt der Forschung in den kommenden Jahren zu machen. Für Metz, der einer der führenden Autoren des vierten Uno-Klimaberichts war, gibt es zu viele ungeklärte Punkte: „Es gibt immer noch offene Fragen zu dem Verhalten der großen Eisdecken, wie zum Beispiel Grönland, und den Folgen eines Anstiegs des Meeresspiegels.” Deswegen, so schlägt Metz nun vor, soll sich ein spezieller Uno-Klimabericht schwerpunktmäßig mit dem Eis beschäftigen.

Eine gute Idee, bedenkt man, dass der aktuelle Uno-Klimabericht in Teilen schon wieder überholt ist: Nicht nur die Klimamodelle erscheinen arg konservativ, außerdem kommen zahlreiche aktuelle Studien und Beobachtungen wie die massive Eisschmelze dieses Sommers in dem Bericht gar nicht vor.

Sehr zurückhaltend ist das Urteil der Uno-Klimaexperten auch im Bezug auf Grönland, das zu 80 Prozent von Eis bedeckt ist. Ein Zwanzigstel des gesamten Eises der Erde gibt es hier. Die Forscher gehen bei ihren Szenarien zum durchschnittlichen Anstieg des Meeresspiegels stets davon aus, dass das kilometerdicke Inlandeis von Grönland in Hunderten Jahren langsam abschmilzt. Neuere Forschungen lassen aber auch ein alternatives Szenario realistisch erscheinen: „Es könnte andere Mechanismen geben, in denen Wasser in die Gletscherspalten eindringt und als eine Art Gleitmittel wirkt”, erklärt Metz. Dann könnten binnen kürzester Zeit große Eismengen ins Rutschen kommen und abbrechen. Einmal im Wasser würden die Mega-Eisberge dann nach Süden treiben – und schmelzen.

Auch wenn das nur ein theoretisches Szenario ist, muss man sich vor Augen führen, dass Grönland über genug Eis verfügt, um den Meeresspiegel im Extremfall um fast sieben Meter ansteigen zu lassen. Dazu kämen potentiell extreme Folgen für den Golfstrom und das Klima in Europa.

Aktuelle Nasa-Satellitendaten zeigen, dass in diesem Jahr in Grönland 15 Prozent mehr Eis geschmolzen ist als im Durchschnitt der vergangenen Jahre. Wissenschaftler der University of Colorado sind besonders besorgt, weil die diesjährige Eisschmelze nicht dem zu erwartenden Muster folgte: Forscher Konrad Steffen verweist darauf, dass die Schmelze in den vergangenen 30 Jahren eine Zickzack-Kurve gebildet habe. Auf besonders miese Jahre für das Eis – 2005 war zum Beispiel eines – seien immer wieder fette Jahre gefolgt. Doch für dieses Jahr wäre nach den Langzeit-Statistiken eigentlich gar kein besonders starkes Abschmelzen zu erwarten gewesen. Stattdessen fielen die Werte noch um zehn Prozent höher aus als im Rekordjahr 2005.

„Grönland hat über das vergangene Jahr doppelt so viel Eis verloren wie es in den Alpen gibt”, sagt Konrad Steffen.

Quelle: Spiegel online, 2. Dezember 2007