Winfried Wolf
Viele Tausende Jahre lang bewegten sich die Menschen mit vergleichbar geringen Geschwindigkeiten, gewissermaßen mit Bodenhaftung. Seit dem massenhaften Einsatz von Eisenbahnen hat sich die Erdverbundenheit relativiert. Auto und Flugzeug haben diese Tendenz beschleunigt und verallgemeinert: Die Menschen bewegen sich auf dem Globus in ständig beschleunigter Gangart. Heines Feststellung, wonach mit den Eisenbahnen „die Elementarbegriffe von Zeit und Raum … schwankend geworden“ sind, bezieht sich gewissermaßen auf die „gefühlte Raum- und Zeitlosigkeit“. In Wirklichkeit bleiben Raum und Zeit feste Bezugsgrößen. Allerdings sind die rasanteren Gangarten mit einer Bewusstlosigkeit hinsichtlich der Zeit und mit einer Rücksichtslosigkeit gegenüber Natur und Klima verbunden.
In den vergangenen 350 Jahren kam es zu vier Transportrevolutionen. In großen Teilen Europas und in Nordamerika gab es mit den ab dem 17. Jahrhundert errichteten Kanalsystemen eine erste Transportrevolution, die zunächst bestimmend für die industrielle Revolution war. Während bei den vorausgegangenen Verkehrsformen der durchreiste Raum als lebendige Einheit wahrgenommen wurde – Menschen, Pferde und Kutschen waren in die Natur eingebunden –, erschienen die Kanäle wie durch den Raum hindurch geschlagen. Zeitgewinne resultierten aus verkürzten Wegen. Die Eisenbahnen als zweite Transportrevolution wurden ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts in englischen Bergwerken eingesetzt. Sie wurden aus zwei Gründen als veritabler Einbruch empfunden: Erstens kam es zu einer qualitativen Steigerung der Transportgeschwindigkeit – im Vergleich zur Kutsche zu einer Verdreifachung. Zweitens war die Energie, mit der die Lokomotiven betrieben wurden, nicht mehr auf menschliche und tierische Kraft oder auf den Wind zurückzuführen, sondern auf die Dampfkraft. Diese Energiequelle beschleunigte nun auch die industrielle Revolution. Anfang des 20. Jahrhunderts begann mit dem massenhaften Einsatz von Pkws und Lkws in Nordamerika die dritte Transportrevolution. Diese ist mit einer weiteren neuen Energiequelle verbunden: der Verbrennung von Öl und seinen Derivaten Diesel und Benzin. Die vierte Revolutionierung der Verkehrsorganisation findet mit der Luftfahrt statt. Seit Ende des 20. Jahrhunderts haben die Liberalisierung des Flugverkehrs und das Aufkommen so genannter Billigflieger den Flugverkehr immens gesteigert und verallgemeinert.
Anders als im Fall der Eisenbahnen setzten sich das Auto und das Flugzeug weltweit stark phasenverschoben und innerhalb eines Zeitraums von fast hundert Jahren durch – Anfang des 20. Jahrhunderts in Nordamerika, nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa, seit den 1980er Jahren in Mittel- und Osteuropa und Lateinamerika und mit der Jahrhundertwende in China, Indien und der übrigen Welt. Die Verallgemeinerung dieses Verkehrsmodells war nur dadurch möglich, dass die Eisenbahnen in der Fläche und andere schienengebundene Verkehrsmittel in den Städten als bestimmende Massenverkehrsmittel an den Rand gedrängt wurden. Der Aufstieg von Auto und Flugzeug erfolgte weitgehend parallel mit dem Aufstieg der USA zur führenden Wirtschafts- und Militärmacht. Unter den 500 größten Konzernen der Welt ist die Öl-Auto-Flugzeug-Gruppe die bestimmende. Erst wenn dieser stofflichen Seite der Kapitalkonzentration Rechnung getragen wird, können die Grundlagen der tiefen ökologischen Krise und die drohenden zukünftigen ökonomischen und militärischen Erschütterungen des „fossilen Kapitalismus“ verstanden werden.
Winfried Wolf
Wenn in Indien und China nur die Pkw-Dichte erreicht wird, die es 1989 auf dem Gebiet der DDR gab, verdoppelt sich die Zahl der Autos weltweit. Diese Zielmarke – ein Auto auf vier Personen – wird für das Jahr 2020 angepeilt. Zusammen mit dem schnell steigenden Flugverkehr kommt es allein hierdurch zu einem Anstieg der Treibhausgase, der die Ansätze zur weltweiten Reduktion der klimaschädigenden Gase konterkariert.
China und Indien als Länder hinzustellen, die das Weltklima bedrohen, ist allerdings grotesk angesichts der Tatsache, dass die Automotorisierung in dieser Region dem westlichen Modell folgt und vor allem von den Autokonzernen in den USA, Japan und Westeuropa vorangetrieben wird. Die gegenwärtige Struktur der weltweiten Automotorisierung hat weiterhin neokolonialen Charakter: Von den im Jahr 2005 weltweit registrierten 640 Millionen Pkws konzentrieren sich 452 Millionen oder gut 70 Prozent auf die Regionen Nordamerika, Europa, Japan, Australien und Neuseeland, in denen nur 17 Prozent der Menschen leben. Etwas plastischer: In den vier deutschen Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen rollen mehr Pkws als in Indien und China. Für den besonders klimaschädlichen Flugverkehr gilt: Die Hälfte der gesamten weltweiten Verkehrsleistung im Flugverkehr entfällt allein auf den Binnenflugverkehr innerhalb der USA.
Der Verkehrssektor vermittelt die stoffliche Verbindung der globalen Warenwelt und der internationalen Mobilität. In der Folge gibt es Globalisierung seit der ersten Transportrevolution. Zwischen 1700 und 1800 hat sich die Tonnage der aus englischen Häfen auslaufenden Schiffe versechsfacht. Zwischen 1830 und 1910 wurde der Welthandel um das Zwanzigfache gesteigert. 1913 wurden auf den Dampfschiffen zwischen Europa und Nordamerika bereits 2,5 Millionen Reisende gezählt. Der Globalisierungsprozess wurde im 20. Jahrhundert durch die zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise 1929 – 1932 zurückgeworfen; 1950 lag der Welthandel auf dem Niveau von 1913. In den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Globalisierung fort. Seit den 1980er Jahren hebt der Welthandel von den Binnenmärkten förmlich ab: Zwischen 1980 und 2000 hat sich das weltweite Bruttoinlandsprodukt rund verdoppelt. Der Welthandel wuchs im selben Zeitraum um das Dreifache. Noch größer war das stoffliche, physische Wachstum in Form der umgeschlagenen Tonnage in den großen Seehäfen.
Globalisierung ist demnach ein integraler Bestandteil des modernen Kapitalismus. Es verändern sich allerdings die Dimensionen. 1878 beklagte der preußische Ministerpräsident Fürst Otto von Bismarck, dass zunehmend Holz aus Ungarn und Schweden den inländischen Holzmarkt ruinieren und „ausländisches Holz durch billige Tarifsätze der Eisenbahnen vor dem einheimischen bevorzugt“ würde. Heute wird bayerisches Buchenholz nach China exportiert und dort zu Kinderspielzeug verarbeitet, um erneut nach Europa exportiert zu werden.
Spätestens seit den zwei letzten Transportrevolutionen ist der Austausch zwischen Mensch und Natur völlig auf die Ziele der fortgesetzten Beschleunigung und des ungehemmten Wachstums ausgerichtet. Dort, wo die Natur diesen Zielen im Weg steht, wird sie überbrückt, untertunnelt und begradigt. Bei der Realisierung der strategischen Verkehrsprojekte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielte das Thema Umwelt im gesellschaftlichen Bewusstsein noch keine Rolle. Bekannt sind allerdings die menschlichen Opfer: Der Bau der ersten interkontinentalen Eisenbahn in den USA soll ebenso vielen Menschen – überwiegend Chinesen – das Leben gekostet haben, wie er Schienenschwellen erforderte. Der Bau des Suez-Kanals und der des Panama-Kanals forderten insgesamt mehr als 40.000 Menschenleben. Die strategischen Verkehrsprojekte hatten von Anfang an eine militärische Komponente. Als beim Bau des Gotthart-Tunnels in der Schweiz die italienischen „alpinen Steinarbeiter“ gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen streikten, schlug das schweizerische Militär die Insurrektion nieder. Der Panama-Kanal wurde von der US-Regierung von vornherein als „Teil der Küstenlinie der USA“ gesehen; die Panama-Kanalzone war bis 1999 eine militarisierte Zone unter US-Kontrolle.
Die in jüngerer Zeit umgesetzten und die in den nächsten Jahren geplanten Großprojekte im Verkehrssektor setzen die Entwicklung fort. Die europäischen „Missing-Link-“ und TEN-Projekte (Eurotunnel, Alpentunnel, Brücken-Tunnel-Verbindungen in Nordeuropa), der Bau neuer großer Seehäfen und die Erweiterung des Panama-Kanals werden die Transportinflation und die Belastungen von Umwelt und Klima steigern.
„In Zukunft geht es darum, im Verkehrssektor weniger Beton und mehr Intelligenz einzusetzen.“ Diese erstaunliche Einsicht der Europäischen Kommission steht im krassen Widerspruch zur verkehrspolitischen Praxis der Europäischen Union.
Die gewaltigen Steigerungen der Transporte von Personen und Güternn sind mit hohen Kosten verbunden, die nicht in den Transportpreisen enthalten sind. Es handelt sich erstens um materiell bezifferbare Kosten (z. B. nicht gedeckte Unfallkosten). Zweitens gibt es „nicht internalisierte“ Kosten, deren Höhe in Euro geschätzt werden kann (etwa Kosten von Umweltbelastungen, gesundheitlichen Schädigungen oder Lärm). Drittens gibt es Kosten, die nur über – zum Teil problematische – Hilfskonstruktionen grob beziffert werden können; ihnen kommt jedoch inzwischen eine größere Bedeutung zu (z.B. „Kosten“ von Menschenleben und die Kosten der Klimaerwärmung).
Die autoritativste Studie zu diesem Thema kommt zu dem Ergebnis, dass allein in Westeuropa jährlich rund 650 Milliarden Euro an „externen Kosten des Verkehrs“ entstehen, wobei 84 Prozent davon auf den Straßenverkehr und 14 Prozent auf den Luftverkehr entfallen. Die beiden eng mit der erwähnten Kapitalgruppe Öl-Auto-Flugzeug verbundenen Verkehrsarten Straßen- und Luftverkehr konzentrieren damit 98 Prozent aller externen Kosten des Verkehrs auf sich. Wenn die externen Kosten der See- und Küstenschifffahrt einbezogen werden – das in den Schiffsmotoren verbrannte Schweröl ist hochgiftiger Sondermüll –, ergibt sich ein Niveau externer Kosten, das 10 Prozent des westeuropäischen Bruttoinlandproduktes entspricht.
Die externen Kosten des Verkehrs und die zusätzlichen vielfältigen Subventionen münden in künstlich reduzierten Transportpreisen. Zusammen mit den Bauprojekten, die den natürlichen Widerstand des Raumes reduzieren, tragen diese Dumpingpreise zur Inflation aller Verkehre bei. In der Folge verläuft in Zukunft die preiswerteste Verbindung von China an die Ostküste der USA durch den Suez-Kanal und das Mittelmeer sowie über die Nordatlantikroute nach Nordamerika. Der Panama-Kanal wird erst 2015 groß genug für die neuen gewaltigen Container-Carrier sein; ein dreimal längerer Seeweg kommt den Reedereien günstiger als der Einsatz von Schiffen, die mit 20 Prozent weniger Containern beladen sind.
Der Startschuss für die Eisenbahnen waren Lokomotivrennen. Am Beginn der Durchsetzung des Automobils als Massenverkehrsmittel standen Autorennen. Eine der ersten Maßnahmen des italienischen sowie des deutschen Faschismus war jeweils die Aufhebung jeglicher Geschwindigkeitsbegrenzung im Straßenverkehr. Im April 2007 realisierte der französische Hochgeschwindigkeitszug TGV mit 575 Stundenkilometern einen neuen Weltrekord im Schienenverkehr, der völlig abgehoben von der Realität des Eisenbahnverkehrs ist.
Der Tempowahn ist mit einem Verlust an Bodenhaftung, mit einer Zerstörung von Nähe und mit einem Bewusstsein verbunden, dass technisch alles machbar sei – und dass das technisch Machbare auch das sinnvollerweise zu Machende ist. Vorherrschend sind Geschwindigkeitsfetischismus und Technikwahn.
Ernst Bloch argumentierte: „Heute sehen die Häuser wie reisefertig drein. Obwohl sie schmucklos sind oder eben deshalb, drückt sich in ihnen Abschied aus.“ 2007 entsteht mit dem „Airrail Center“ am Flughafen Frankfurt am Main – über einem ICE-Bahnhof – ein spektakuläres Gebäude, das, so der Architekt, in erster Linie „Geschwindigkeit abbilden soll“. Der Philosoph Peter Sloterdijk argumentierte, dass dieses „Haus als Maschine“ auch “den Angriff des 21. Jahrhunderts auf die überlieferten Formen der sedentären Dumpfheit” zum Ausdruck bringt. Immer mehr Menschen nehmen zwar die von ihnen programmierten Signale per iPod, jedoch nicht mehr die Signale der direkten Umgebung wahr. Vodafone wirbt mit dem Satz: „Zuhause ist da, wo Ihr Telefon ist.“ In der T-Mobile-Werbung sagt ein Kind: „Mein Vater ist auch unterwegs zuhause.“ Die Konsum- und Vergnügungseinrichtungen in aller Welt, zu denen per Billigflug gejettet wird, sind längst untereinander austauschbar. „Der Aufenthalt im klimatisierten Tropenhotel mit TV und Telefon, der Flug, die Autofahrt, das alles sind nur Simulationen einer Erfahrung. Sehenswürdigkeiten werden nicht mehr wahrgenommen, sondern mittels Fotoapparat und Videokamera gleichermaßen vom Leib gehalten.“ Martin Bergelt beschreibt damit das Bild des modernen Menschen ohne Raum und Zeit: „Am Horizont zeichnet sich eine Art Chip-Typus mit Operator-Funktion ab, auswechselbar, ohne eigene Zeit, ohne eigenen Raum, eingezwängt ins Schema binärer Schalterwahl.“
Doch die Raum- und Zeitlosigkeit ist nicht real. Der Tag hat weiterhin 24 Stunden. Der Raum und die Materie sind weiter existent beziehungsweise sie verändern sich – Umwelt wird zerstört, der Treibhauseffekt wird gesteigert –, auch weil die Verletzbarkeit von Raum und Materie immer mehr aus der direkten Erfahrungswelt ausgeblendet wird. Paul Virilio beschrieb die Gefahr einer Dromokratie, einer Herrschaft der Geschwindigkeit, die der Demokratie entgegengesetzt sei. „Der dromokratische Geist … wirkt wie ein permanenter Angriff auf die Welt und durch sie hindurch, wie ein Angriff auf die Natur des Menschen: Die Vernichtung von Fauna und Flora und die Außerkraftsetzung der natürlichen Ökonomie sind nur schwache Vorläufer von viel brutaleren Zerstörungen.“ Als im Jahr 1995 der damalige Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel erstmals für das verkehrspolitisch kontraproduktive Großprojekt „Stuttgart&bsp;21“ warb, bezog er sich positiv auf Leo Trotzki und dessen Aussage: „Hätten wir noch mehr Zeit gehabt, hätten wir gewiss noch mehr Fehler gemacht.“ Er verschwieg, dass Trotzki vergleichbare Worte gebrauchte, um die Realitäten der Kriegsführung zu beschreiben. Die vorherrschende Verkehrspolitik ist Krieg gegen die Menschen sowie Krieg gegen Natur und Klima.
Für eine alternative Verkehrsorganisation gibt es zwei Ausgangspunkte: Erstens die Erkenntnis, dass das westliche Transport- und Mobilitätsregime in erheblichem Maß zu den Zerstörungen von Umwelt und Klima beiträgt, die in jüngster Zeit breit debattiert werden. Eine Steigerung und Verallgemeinerung dieser auf Öl, Auto und Flugzeug basierenden Transportorganisation hätte schwer wiegende Folgen für das weltweite Klima. Die Politik einer radikalen Verkehrswende muss in der hoch motorisierten Welt begonnen und gegebenenfalls zunächst im Alleingang durchgeführt werden, wenn sie überzeugen und zum Modell für den „Rest der Welt“ werden soll. Zweitens muss verstanden sein, dass das Wachstum der pro Kopf zurück gelegten Kilometer nicht mit einer gesteigerten Mobilität und dass die ständig wachsende Zahl von Transportkilometern im Güterverkehr nicht mit Wohlstandsgewinnen gleichzusetzen ist. Vielmehr droht, wie es in einem Text heißt, „die Gesellschaft an ihrem Mobilitätsaufwand und -aufkommen zu ersticken. … Das Niederreißen sämtlicher kultureller Schranken durch weltwirtschaftliche Arbeitsteilung ist von ausnehmender Zerstörungskraft“. Es gelte „ernsthaft mit einer Begrenzung der mechanischen Raum-Zeit-Verdichtung“ zu beginnen. Erforderlich sei dafür „eine Flächenbahn mit einem dichten Schienennetz … In dicht besiedelten Gebieten darf kein Bürger weiter als drei Kilometer bis zum nächsten Bahnanschluss haben.“ Das „Herzstück einer entsprechenden neuen Verkehrs- und Raumordnungspolitik“ sei „die Verkehrsvermeidung“, die nur gelingen werde, wenn „die Geschwindigkeiten gedrosselt und keine zusätzlichen Straßen gebaut werden.“ Auf diese Weise allerdings könnte sich eine „soziale Ästhetik herausbilden, die gelassene Zeitmaße und mittlere Entfernungsmaße als gelungen empfindet“. (Anmerkung der Redaktion: Die Studie, aus der hier zitiert wird, wurde im Jahr 1995, vor einem Dutzend Jahre, vom Wuppertal Institut verfasst. Im Schlusskapitel von Winfried Wolfs Buch „Verkehr. Umwelt. Klima“ wird dargelegt, wie ein solches Programm der Verkehrswende zu konkretisieren ist).
Vor allem gilt: Ein solches Programm ist aktueller denn je. Seit der Veröffentlichung der zitierten Studie im Jahr 1995 wurde in Europa das Autobahnnetz von 47.500 auf 62.000 Kilometer verlängert, das Schienennetz von 218.000 auf 195.000 Kilometer abgebaut sowie die Zahl der Pkws von 178 Millionen auf 225 Millionen gesteigert. Und 600.000 Menschen wurden im Straßenverkehr getötet.
Lewis Mumford verallgemeinert den Geschwindigkeits- und Autowahn und spricht von einem „Mythos der Maschine“, dem die Menschen in den vergangenen zwei Jahrhunderten verfallen seien. Seine Schlussfolgerung: „Um zu ihrer Rettung zu gelangen, wird die Menschheit … eine Bekehrung vom mechanischen Weltbild zu einem organischen (vollziehen müssen), in welchem die menschliche Persönlichkeit, als die höchste bekannte Erscheinungsform des Lebens, jenen Vorrang erhält, den jetzt Maschinen und Computer haben.“ Mumford argumentiert, dass solche Wandlungen zwar „schwer vorstellbar“ seien, in der „Geschichte jedoch wiederholt vorkommen und unter dem Druck von Katastrophen wieder vorkommen können“.
Ich setze hier in erster Linie auf die konkrete organisierte Gegenwehr, auf Beispiele des Widerstands gegen die Privatisierung von Häfen, gegen die förmliche Einbettung von Natur, gegen Enteignungen der Bevölkerung durch die Bahnprivatisierungen sowie gegen die extremen Ausbeutungsbedingungen, die in der internationalen Seeschifffahrt vorherrschen (und wiederum eine der Voraussetzungen für die Transportinflation sind). Möglicherweise wird es eine Verbindung zwischen dem kollektiven Erwachen einer Mehrheit der Bevölkerung und Aktivitäten von Kollektiven, Bürgerinitiativen und Gewerkschaften geben müssen. In jedem Fall ist Lewis Mumford zuzustimmen, wenn er in letzter Instanz auf den Mensch, seine Einsicht und seine Aktivität setzt: „In einer Sache können wir gewiß sein: Wenn der Mensch seiner programmierten Selbstvernichtung entkommen soll, dann wird der Gott, der uns schützt, kein deus ex machina sein – er wird allein in der menschlichen Seele auferstehen.“
Der Text ist ein Auszug aus dem im Oktober 2007 bei Promedia erschienenen Buch „Verkehr. Umwelt. Klima. Die Globalisierung des Tempowahns“.
Siehe Buchtipp
Winfried Wolf, 1949 geboren, Diplompolitologe und Dr. phil., lebt und arbeitet als freier Journalist bei Berlin. Zwischen 1994 und 2002 war er Abgeordneter des Deutschen Bundestages und dort Mitglied des Verkehrsausschusses. Wolf ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac-Deutschland, Mitherausgeber der „Zeitung gegen den Krieg“ und Sprecher der Bahnfachleutegruppe „Bürgerbahn statt Börsenbahn“.