Moreau
1993 hat der Grazer Pfarrer Wolfgang Pucher im Grazer Stadtteil St. Leonhard das Vinzidorf gegründet, ein Dorf aus Baucontainern für obdachlose Menschen. Neben dieser „Heimat für Heimatlose” sind auf Puchers Initiative weitere soziale Einrichtungen, u.a. auch für in Not geratene Frauen, entstanden (www.vinzi.at). Menschen wie Pfarrer Pucher oder die Wienerin Ute Bock (www.fraubock.at), die sich so selbstlos um Flüchtlinge kümmert, zählen für mich zu den wahren Heldinnen in diesem Land. Und es gibt noch zahllose andere, deren Namen man nicht kennt, die das gesellschaftliche Werkel – oft genug un- oder unterbezahlt – am laufen halten.
„Stellen Sie sich vor”, sagt der deutsche Kabarettist Volker Pispers, „morgen fallen alle Unternehmensberater, Investmentbanker und alle Aktienanalysten tot um – oder morgen fallen alle Krankenschwestern, alle Polizisten, alle Feuerwehrleute, alle Krankenpfleger tot um, und überlegen Sie kurz, was Sie persönlich vermissen würden.”
Der Investmentbanker könnte sich – zum Beispiel – ohne seine Putzfrau brausen gehen. Der Ex-Finanzminister ebenfalls. Die Putzfrau, neudeutsch „Reinigungskraft”, erhält den Mindestlohn und rangiert gesellschaftlich am unteren Ende, der Vorstandschef wird hofiert und kassiert – in Österreich – bis zum 600fachen des Mindestlohns. In Deutschland klaffen Mindestlohn und Spitzeneinkommen bereits im Verhältnis 1 : 5000 auseinander – und in jenem Land, in dem die meisten Menschen weltweit im Gefängnis sitzen, in dem Millionen Kinder jeden Tag hungrig zu Bett gehen, in dem ganze Familien auf der Straße leben und wo in vielen Städten Zeltlager entstehen, in den USA also, in den USA ist das Verhältnis Mindestlohn – Spitzeneinkommen 1 : 300.000. Österreich wirkt in diesem Vergleich beinahe sympathisch, obwohl es in Wahrheit völlig verrückt ist anzunehmen, irgendwer – und sei sie oder er noch so qualifiziert – sei 600 mal mehr wert. Also – was ist gerecht?
In seiner 1971 geschriebenen Abhandlung „Eine Theorie der Gerechtigkeit” hat der 2002 verstorbene Philosoph John Rawls folgendes Gedankenexperiment vorgeschlagen: Angenommen, eine Gruppe von Menschen könnte noch einmal ganz von vorn anfangen und sich gemeinsam die Prinzipien einer gerechten Gesellschaft ausdenken – also ohne zu wissen, ob der Einzelne später als Konzernchef oder Tellerwäscher, Glücksritter oder Pechvogel seinen Platz in der Gesellschaft finden wird. Auf welche idealen Gerechtigkeitsgrundsätze könnte sich die Gruppe im „Urzustand” wohl verständigen?
Rawls war überzeugt, hinter dem „Schleier des Nichtwissens” würden sich alle Beteiligten auf eine Gesellschaft einigen, in der jeder, ob reich oder arm, eine faire Chance besitzt, seine Begabung und seine Interessen zu verwirklichen. Diese wohlgeordnete Gesellschaft wird die Grundgüter – berufliche Stellung und Vorrechte, Einkommen und Besitz – gerecht verteilen und Ungleichverteilung nur dann als legitim erachten, wenn der Schlechtestgestellte daraus einen Vorteil bezieht.
Wird es jemals dazu kommen? Mit Pfarrer Pucher meine ich: „Gerechtigkeit hat es nie gegeben und wird es nie geben. Wir müssen sie einfordern.”
Zuerst erschienen in AKTIV plus, Jänner/Februar 2011